Irgendwann um den Jahreswechsel stolperte ich das erste Mal über Kishotenketsu, die ostasiatische Vier-Akt-Struktur: eine Art des Erzählens, die ohne Konflikt auskommt, das klang für mich nach einer interessanten Alternative zu Aristoteles‘ Drei-Akt-Modell und der Heldenreise, die bis heute die Basis zahlloser westlicher Storys, Dramen und Filme bilden. Ich suchte und fand Henry Liens Einführung Spring, Summer, Asteroid, Bird, das allerdings erst im Frühjahr erschien. Jetzt habe ich es endlich ausgelesen.

Das knapp 200 Seiten umfassende Buch beruht selbst auf vier Kapiteln oder Akten, die von Opening Bows und Closing Bows gerahmt werden. Zu Beginn legt Lien dar, dass es ihm bei seiner Vorstellung des ostasiatischen Erzählmodells um strukturelle Diversität geht – also Vielfalt, die nicht bei den Figuren oder dem Setting einer Geschichte stehen bleibt, sondern die Erzählweise miteinbezieht. Während diverse Casts oftmals etwas von Kosmetik haben (indem die selben alten Geschichten bloß in moderneren Kostümen erzählt werden), spiegeln sich in den Erzählstrukturen unterschiedliche Werte und verschiedene Arten, die Welt zu sehen.
Um das zu zeigen, greift er im Lauf des Buches auf eine ganze Reihe von Geschichten in verschiedenen Medien zurück, darunter Parasite, Nintendo (Mario und Zelda Games), The Story of the Stone (Der Traum der roten Kammer), Rashomon, Everything Everywhere All at Once, Tausend und eine Nacht sowie weitere Legenden, Erzählungen, Filme und Spiele. Er nutzt dabei so viele unterschiedliche Quellen, dass kaum jemand alle kennen wird, aber ebenso den wenigsten alle fremd sein werden. Und dann ist da ja noch die titelgebende Geschichte Spring, Summer, Asteroid, Bird, die Lien selbst auf Seite 11ff erzählt und die zugleich einen ersten Eindruck davon gibt, was Kishotenketsu ist:
Cheslea und Marilyn leben in Montana. Die winzige Chelsea betrachtet ihre entfernte Verwandte Marilyn, einen riesigen T-Rex, misstrauisch vom Ast eines Feigenbaums aus. Marilyn nimmt Chelsea nicht einmal zur Kenntnis – auch nicht, als Chelsea im Feigenbaum das erste Mal Eier legt und ihre Brut im Sommer mit den samengefüllten Früchten des Baumes füttert, an dem sich Marilyn wegen seines schweren, süßen Geruchs so gerne reibt.
Die Perspektive wechselt, plötzlich tritt ein „Ich“ auf, das über den Feigenbaum hinwegrast – ein „Ich“, das seine Umgebung nicht wirklich wahrnimmt, handelt es sich dabei doch um den Meteoriten, der gleich im Golf von Mexiko einschlagen und zum größten Massensterben auf dem Planeten führen wird.
Anschließend sind wir wieder bei Chelsea, die unter den verbrannten Resten ihres Feigenbaums dessen Samen aufpickt, die sie mit ihrem Schnabel öffnet. Sie und ihre Brut überleben.
60 Millionen Jahre später bevölkern die Vögel, Chelseas Nachfahren, jeden Winkel der Erde, während von Marilyn und ihresgleichen nur noch versteinerte Knochen in Museen übrig sind – worüber Chelsea vielleicht lächeln würde, wenn sie nicht tot wäre und wenn man denn mit einem Schnabel lächeln könnte …
Voilà, so sieht demnach also ein Vierakter aus:
Akt 1 (Ki) stellt die verschiedenen Elemente vor:
Chelsea und Marilyn, die entfernten Verwandten: Flugsaurier und T-Rex
Akt 2 (Sho) entwickelt diese weiter:
Chelsea legt Eier, Marilyn ist das wurscht
Akt 3 (Ten) fügt ein neues Element/den Twist hinzu:
der Asteroid – die Story um zwei Dinos, die sich nicht leiden können, wird die einer globalen Katastrophe (= etwas ganz anderes)
Akt 4 (Ketsu) bringt alle Elemente zusammen:
der Asteroid hat fast alles Essbare außer Samen vernichtet. Chelseas geringe Größe und ihr Schnabel erweisen sich als unsichtbare Stärke mit sehr langfristigem Überlebensvorteil
Im Gegensatz dazu steht die westliche Drei-Akt-Struktur, die sich vor allem um die Reise eines Helden (oder einer Heldin) dreht, die nach der Einführung (Akt 1) der Personen, des Settings und des Hauptkonflikts in die große Konfrontation (Akt 2) führt, in der die Konflikte ausgelebt werden und wo die Hauptfigur allerlei Hindernisse überwinden muss, bevor all das in einer Art Showdown zu Auflösung (Akt 3) gebracht wird. Wesentliche Elemente sind hierbei die Symmetrie, die eine Balance zwischen Anfang und Ende sowie die frühzeitige Einführung der wichtigsten Mitspieler oder Elemente erfordert. Auflösungen à la „es war alles nur ein Traum“ werden nur höchst ungern gesehen bzw. als unbefriedigend empfunden. Interessanterweise ist „deus ex machina“, also eine Auflösung durch das Eingreifen einer göttlichen Macht, die in den antiken Dramen und Geschichten dem zeitgenössischen Publikum als vollkommen logisch und sinnvoll erschien, in modernen Erzählungen absolut verpönt. Hinzukommt, dass lange Zeit die zugrundeliegende Struktur als universell galt:
„Stories of a hero facing a central problem and preserving and triumphing over challenges and doubts invoke what psychiatrist Carl Jung considered to be archetypes central to all humanity.“ (Spring, Summer, Asteroid, Bird, p. 19)
Aber: Ist das so beziehungsweise muss das so sein?
Den Hauptunterschied zwischen dem westlichen Drei-Akt-Modell und dem ostasiatischen Kishotenketsu sieht Lien im Twist des dritten Aktes. Den könnte man zwar auf den ersten Blick einfach für einen Plot Point oder Wendepunkt halten, wie er in den westlichen Erzählformen stets gefordert wird, aber während ein Plot Point einem bereits vorhandenen, eingeführten Element eine möglichst überraschende Wendung verpasst, bedeutet der Twist im Kishotenketsu einen viel radikaleren Bruch – denn er kommt in Form eines neuen Elementes daher, etwas, was im westlichen Modell geradezu „verboten“ ist. In der Titelgeschichte ist es nicht nur der Auftritt des Asteroiden, sondern dazu noch der Wechsel oder Bruch der Erzählperspektive. Im oscargekrönten Parasite ist es der Moment, indem die arme Familie, die die reiche Familie betrügt, im Keller von deren Haus den halbverhungerten Mann der entlassenen Haushälterin vorfindet. Und in jedem Fall bedeutet dieses spät (für westlichen Geschmack zu spät?) eingeführte neue Element ganz andere Herausforderungen aber vor allem Möglichkeiten für den letzten Akt und den Schluss – Geschichten können komplett ihr Genre wechseln, das Thema kann sich völlig verändern.
Ein spannender Gedanke: Indem man die Symmetrie aus Vorbereitung und Vorausdeutung einerseits und überraschenden, aber eben doch aus dem Vorangegangenen erklärbaren Auflösungen andererseits aufgibt, die gerade beim Plotten nach dem westlichen Modell sehr viel Zeit in Anspruch nimmt und einen ständig zwischen der Gefahr der Vorhersehbarkeit und der der Unglaubwürdigkeit schwanken lässt, gewinnt man erzählerische Freiheit. Und schlagartig ist klar, warum mir z.B. in japanischen Erzählungen oftmals die Enden so anders und besonders, aber zugleich unerklärlich attraktiv erscheinen. Das gilt auch für all die Geschichten und Filme, die Lien in seinem Werk benutzt. Dank ihm stehen jetzt z.B. Haruki Murakamis Hard-Boiled Wonderland and the End of the World und Your Name von Makoto Shinkai auf meiner Lese- bzw. Filmliste.
Nachdem wir nun Liens Opening Bows und die allgemeine Vorstellung der osasiatischen, vieraktigen Struktur skizziert haben, geht es in seinem Act Two – Circular/Nested Stories tiefer in die Materie hinein.
Der Film Rashomon von Akira Kurosawa aus dem Jahr 1950 dient Lien als Beispiel für „circular stories“. Dabei ist zu beachten, dass er den Begriff nicht im Sinne eines Kreisschlusses verwendet, bei dem eine Geschichte am Ende an ihren Ausgangspunkt zurückkehrt und so eine Form der Metafiktion etwa als selfbegetting novel erzeugt, sondern als Bezeichnung für eine Geschichte nimmt, die wiederholt über dasselbe berichtet. Genau darum geht es ja bei Rashomon und der sowohl vor Gericht als auch am Rashomon (dem Stadttor) von den Zeugen diskutierten Aussagen und Erinnerungen zum Überfall im Wald der Dämonen, bei dem ein Samurai getötet und seine Frau vom Banditen vergewaltigt wird. Das Besondere ist jedoch, dass sich am Ende aus all den Perspektiven und daraus resultierenden Geschichten der verschiedenen Beteiligten bzw. Zeugen keine eindeutige Wahrheit herausfiltern lässt.
Für die eingebetteten Geschichten (nested stories) wendet sich Lien einer Erzählung von Ted Chiang zu. In The Merchant and The Alchemists Gate geht es im Verlauf von vier in eine Rahmenhandlung eingebetteten Geschichten um unterschiedliche Folgen von Zeitreisen mithilfe eines magischen Tors und die Frage, ob das Schicksal feststeht oder zu verändern ist. Dabei ist der Mix aus Elementen Geschichten mit wiederholten Durchläufen und eingebetteten Geschichten besonders gut geeignet, um ein Paradox wie die Frage von freiem Willen versus Schicksal zu untersuchen.
Der mehrfach oscarpeisgekrönte Film Everything Everywhere All At Once aus dem Jahr 2022 spielt virtuos mit der Idee von Paralleluniversen, zwischen denen die Protagonisten hin und herreisen, um sich (bzw. ihre jeweiligen Paralleluniversen-Ichs) und die Welt an sich vor einem alles verschlingenden Monster zu retten. Sciene Fiction trifft auf Komödie trifft auf Philosophie und noch viel mehr, und das dass nur mit einer nichtlinearem Erzählstruktur funktioniert, sollte einleuchten. Ansonsten: einfach diesen Film nochmal anschauen – das ist ohnehin immer ein Gewinn. Das gilt sicher auch für Alain Resnais Letztes Jahr in Marienbad, einen Klassiker, in dem ähnlich wie bei Rashomon die verschiedenen subjektiven Perspektiven und dadurch widersprüchliches Erzählungen kein eindeutiges Ganzes ergeben – und darüber hinaus, so Lien, ein Beispiel für eingebettetes/nichtlineares Erzählen in westlichen Geschichten.
Damit sind wir in seinem nächsten Kapitel angekommen: Act Three People Aren’t People. In diesem dreht sich fast alles um Wertvorstellungen, wie diese von unterschiedlichen Kulturen geprägt werden und wie die resultierenden, verschiedenen Werte zu unterschiedlichen Wahrnehmungen und Erzählweisen führen – ein Fakt, den etwa die westliche Psychologie lang ignoriert hat und der zu kultureller Arroganz führte. Lien veranschaulicht das, indem er auf die unterschiedliche Bewertung von Kollektivismus und Individualismus in westlichen und östlichen Kulturen verweist und zeigt, wie diese zum Fokus auf unterschiedlichen Themen in Erzählungen führen:
„Western storytelling emphasizes these themes:
- Rising self-esteem/empowerment arc
- Individual heroism
- Struggle against external foes
- Characters changing“
(Spring, Summer, Asteroid, Bird, p. 111)
Im Gegensatz dazu betonen traditionelle ost/asiatische Erzählungen vor allem:
- The relationship of the individual to the larger group (family, society),
- Group heroism
- Internal struggle
- Characters understanding something within or outside of themselves
(Spring, Summer, Asteroid, Bird, p. 111 f)
Diese Unterschiede, so Lien, werden besonders deutlich, wenn dieselbe Geschichte aus verschiedenen, kulturellen Hintergründen heraus erzählt wird. Sein Beispiel hier ist das chinesische Märchen bzw. Gedicht Mulan und seine Verfilmung durch Disney.
Im Original tritt das junge Mädchen Mulan anstelle ihres alten Vaters in die Armee ein, um so ihn bzw. die Familie zu schützen und zugleich die Pflicht im Krieg zu erfüllen. Dabei wird zuerst sehr ausführlich beschrieben, wie sie glücklich als Frau in ihrer Familie lebt, dann der Krieg mehr oder weniger nur kurz gestreift, und hinterher wiederum viel Zeit darauf verwendet zu erzählen, wie sich Mulan nach dem Krieg alle Mühe gibt, sich schön zu machen, um den Soldaten zu zeigen, mit wem sie Seite an Seite gekämpft haben. Frausein und Starksein schließt sich hier nicht aus.
Bei Disney dagegen geht es für Mulan darum, sich von der Familie und den Erwartungen an Weiblichkeit zu emanzipieren, um sich selbst zu finden und im Alleingang das Reich zu retten – also praktisch um komplett gegenteilige Werte und Ideale als im Original. Wenig überraschend floppte der Film in China (und ich weiß endlich, warum ich ihn so blöd fand, dass ich ihn nicht einmal bis zum Ende anschaute ;)).
Dafür möchte ich jetzt The Grace of Kings von Ken Liu lesen, der in China geboren wurde und in den USA lebt. Sein Roman kommt als Fantasy ohne asiatische Namen oder Figurenbeschreibungen daher, ist aber stark von chinesischer Geschichte und Kultur beeinflusst. Erzählt wird darin vom Kampf eines Banditen und eines Kriegers um die Kontrolle über das Kaiserreich. Zwischenzeitlich verbünden sie sich, werden dann wieder auseinandergetrieben und bekämpfen einander weiter, bis der Bandit schließlich begreift, dass er eine Ressource bislang komplett übersah: die Frauen. Und am Ende sind sie, deren Beitrag so lang übersehen wurde, diejenigen, die den Konflikt auflösen. Für mich liest sich das überraschend und vielversprechend. Allerdings ging das wohl vielen westlichen Lesern anders:
„The Grace of Kings was criticized by many Western readers because it did not introduce the women characters as critical players in the large war plot until the second half of the book.“ (Spring, Summer, Asteroid, Bird, p.116)
Dabei ist doch eben die Tatsache, dass die Frauen übersehen werden, der zentrale Faktor, also ist es nur folgerichtig, dies für das Publikum genauso nacherlebbar zu machen -, und ich frage mich zudem, bin ich die einzige, der vor allem die vielen mittelmäßigen, manchmal sogar guten, aber eben nicht herausragenden nach dem Drei-Akt-Modell erzählten Geschichten oftmals viel zu vorhersehbar sind? Es ist halt nicht jeder von uns ein Shakespeare mit der Fähigkeit zu wirklich überraschenden und zugleich befriedigenden Twists (allein die Sache mit dem Wald, der auf die Burg marschiert in Macbeth!). Mal abgesehen davon, dass das Leben haufenweise Geschichten schreibt, die man mit einer Heldenreise in drei Akten gar nicht erzählen kann. Aber zurück zu Lien und seinen Überlegungen.
Er wendet sich im Folgenden Ishiguros Never Let Me Go zu, das ich als Buch von zugleich betörender Schönheit wie (zunehmend) bedrückender Atmosphäre im Kopf habe. Entsprechend verwundert war ich, als nun las, Ishiguro selbst halte es für ein optimistisches Buch. Doch Liens Erklärung dafür ist einleuchtend – und bezeichnend für die unterschiedlichen west-östlichen Werte und Erzählformen:
Er wendet sich im Folgenden Ishiguros Never Let Me Go zu, das ich als Buch von zugleich betörender Schönheit wie (zunehmend) bedrückender Atmosphäre im Kopf habe. Entsprechend verwundert war ich, als nun las, Kazuo Ishiguro selbst halte es für ein optimistisches Buch. Doch Liens Erklärung dafür ist einleuchtend – und bezeichnend für die unterschiedlichen west-östlichen Werte und Erzählformen:
„Very few of us will ever be able to singlehandedly overturn an unjust system, regardless of how hard we work for that. Few if any of us will be able to avoid loss and suffering. However, all of us can strife to find meaning, even if we live in a far-from-perfect-world, by nurturing connections with others. Stories that teach people that the only stories worth telling are ones about heroes who ‚win‘ and defeat unjust systems, dodging loss and suffering, are at best unhelpful and at worst harmful.“ (Spring, Summer, Asteroid, Bird, p. 119)
Genau die zugrundeliegende Frage nach den Werten und was sie für uns wie fürs Storytelling bedeuten, steht im Zentrum des nächsten Kapitels – Act Four: Valus Dictate Structure.
„The four-act structure arises from surrendering ego and will and embracing chance and change. Circular and nested structures arise from a recognition of the larger relationship, community, or history that each individual belongs to, rather than a focus on the individual. These story shapes often contain themes about sublimating the individual and exalting the relationship, community or history. Values thus unite substance and form.“ (Spring, Summer, Asteroid, Bird, p. 123)
So beschreibt Lien es zu Beginn des Kapitels, wobei ich hinzufügen würde, die jeweils passende Form für das zu finden, was ausgedrückt werden soll, ist letztendlich so etwas wie die Kernaufgabe jeglicher Kunst. Was davon jedoch in welchem kulturellen oder auch historischen Kontext als gelungen betrachtet werden wird, ist, nun ja, kontextabhängig. Wie Wertvorstellungen lineare und nicht lineare Formen des Geschichtenerzählens bestimmen, zeigt Lien anschließend an verschiedenen Beispielen, darunter den Film Hero von Zhang Yimou aus dem Jahr 2002, der mit seinen verschiedenen subjektiven und widersprüchlichen Erzählperspektiven eine ähnliche Struktur wie Rashomon hat, und Die Erzählungen aus 1001 Nacht. Allein die Aufschlüsselung der verschiedenen Ebenen der bei letzteren ineinander eingebetteten Geschichten sowie der Rahmenhandlung und die Schlüsse, die Lien daraus zieht, wären es wert, Spring, Summer, Asteroid, Bird zu lesen.