Reisetagebuch, die Dritte

Am fünften Workshoptag holten wir uns Verstärkung ins Boot … auch das ist bei den Bündnissen für Bildung möglich:

Workshoptag 5, 23.05.2018
Nach sechs Wochen ist die erste erfreuliche Entdeckung eine technische: Alle Klassen haben auf das neue System umgestellt, und so braucht jeder Sprecher nur noch ein einziges Mikro, das sogar prompt funktioniert! Danach freue ich mich, als Gast meine gehörlose Freundin Winny Stenner vorzustellen. Sie arbeitet zwar aktuell in der Familienhilfe und als Dozentin für Deutsche Schriftsprache, besucht uns heute jedoch als gehörlose Journalistin, Sprach-Spielerin und Schreibende in allen Wahrnehmungs-Welten, der der Normalsinnigen und der der Gehörlosen, der Nasen- und der Augenmenschen.
Das wird auch in „Silberfreundschaft“ deutlich, ihrem mitgebrachten Text, den wir im Wechsel gebärden (Winny) und vorlesen (ich). Winnys poetische Gebärden und ihre gefühlvolle Schiftsprache stoßen auf große Augen. So etwas haben die meisten hier noch nie erlebt. Danach gibt es eine Fragerunde – wann und wie Winny ertaubte, ob ihre Eltern ebenfalls gehörlos sind, etc. – so beschnuppert die ‚Reisegruppe‘ die Besucherin.
Das passt, denn als nächstes steht für einen Teil der Gruppe „Schnuppern & Schreiben“ mit Winny auf dem Programm, während diejenigen, die ihre Geschichten nach dem 2. Block abtippen ließen, an diesen im Computerraum weiterschreiben. Eigentlich hätte ich in dieser Gruppe mit Einzelberatungen loslegen wollen. Doch da wir aufgrund eines Krankheitsfalls bis 12 Uhr keine Lehrkraft mit Gebärdensprachkompetenz haben, bleibe ich bei den ‚Schnuppernasen‘ und leihe, so gut es geht, Winny meine Stimme, während Eylem und Steffie Winnys Gebärden für Lisa übersetzen. So kann ich aus erster Hand berichten, dass die „Kräuter-Säckchen“, die Eva aus ihrem Garten mitbrachte, ganz unterschiedliche Reaktionen auslösen: Befremden und Wiedererkennen, Ablehnung und Appetit – was dem einen eklig erscheint, riecht für den anderen köstlich und umgekehrt. Nach dieser Einstimmung geht es mit Parfüms weiter, die Winny aus ihrer umfangreichen Sammlung mitgebracht hat.  […]
Nachmittags tauschen die Gruppen; wer morgens geschrieben hat, schnuppert nun mit Winny, und die Journalistengruppe steckt gemeinsam mit Eva ihre Nasen in die Fragebögen für die Freundschaftsumfragen.
Am Ende zeigt uns dieser Reisetag, wie wichtig gute Kommunikation ist – und wie viel Konzentration es auf allen Seiten braucht, um mit einer nicht optimalen Kommunikationssituation umzugehen. Dennoch glaube ich, dass sich die Anstrengung für alle gelohnt hat und jeder, ob erwachsen oder jugendlich, hörend, hörgeschädigt oder gehörlos, an diesem Tag viele neue (Sinnes)Eindrücke und (Schreib)Erfahrungen mitnehmen konnte.

Workshoptag 6, 24.05.2018
Tag sechs der Reise beginnt auf besondere Weise: die Journalistengruppe stellt ihre Fragebögen im Plenum vor und wir alle werden zu Testkandidaten. Mit Papier und Stift bewaffnet stürzen wir uns in die Fragen nach Freunden und Freundschaft. Danach ziehen die Journalisten los in die Klassen und zu den Lehrern. […]
Ich habe derweil einen straffen Zeitplan vor mir, denn im Zehnminutentakt führe ich mit den Geschichtenschreibern Einzelgespräche. Ich erfahre, dass nicht nur eine Menge Geschichten in diesen beiden Tagen fertig geworden sind, sondern dass sogar mehr Texte entstehen, als sich angekündigt hatten. Eibtesam und Pia, die beide bei den Freundschaftsumfragen mitmachen, haben zudem Geschichten geschrieben – eine Liebesgeschichte mit märchenhaften wie realistischen Zügen und eine Arztstory, um genau zu sein. 17 Geschichten begegnen mir an diesem Tag – mir schwirrt der Kopf!
Ein wenig vom Schwirren der vielen Ideen, der unterschiedlichen Stile, all der Figuren in und den Menschen hinter den Geschichten gibt es im Plenum am Ende des Tages für alle in Form von lauter Vorlesehäppchen: die letzten Sätze ein jeder Geschichte lese ich vor – Heiteres, Spannendes, Romantisches, Gruseliges, alles mögliche ist dabei und alles macht neugierig und Lust auf mehr!
Darauf müssen wir nun jedoch zwei Wochen warten, in denen Shirin die Texte abtippen wird bzw. wir diese mit den im Workshop fertig getippten Geschichten zusammenbringen werden. Aber der erste Teil des „Endspurts“ zum Buch ist schon mal geschafft. Ein gutes Gefühl für alle, denke ich.

 

 

 

 

aus: „Ich nehm dich mit in meine Welt„, Texte schreibender Schüler*innen, hrsg.v. Mischa Bach, Mitteldeutscherverlag, 64 Seiten, ISBN 978-3-96311-076-4