Und so ging es nach den Osterferien weiter im zweiten Workshopblock meiner Autorenpatenschaft an der Landesschule für Gehörlose und Schwerhörige in Neuwied:
3. Workshoptag, 12.4.2018
[…] Was ist spannend an einer Geschichte? Gemeinsam sammeln wir Elemente und Fragen und nähern uns dabei dem wichtigsten Verbündeten, den Autoren auf dem Weg zu einer packenden Erzählung haben: der Hauptfigur.
Dafür liegt Material zum Basteln von Namensschildern in der Mitte des Stuhlkreises: In die obere Hälfte des Schildchens soll jeder seinen eigenen Namen schreiben. In die untere Hälfte gehört der Name der Hauptfigur oder, wenn’s den noch nicht gibt, eine kurze Beschreibung à la „der Junge, der gemobbt wird“. Für alle, deren Hauptfigur so knapp noch nicht greifbar ist, liegen Karteikarten bereit … doch die blieben am Ende unbenutzt, dafür stehen bei mehr als der Hälfte der Teilnehmer*innen zwei Namen auf den Namensschildern. Gemeinsam mit Eva machen sie sich daran, per Speeddating ihre eigene Hauptfigur durch die Fragen ihres jeweiligen ‚Dates‘ besser kennenzulernen. […]
Von den verbliebenen Jugendlichen will die eine Hälfte individuell an ihren Geschichten weiterschreiben, während sich die anderen mit mir auf dem benachbarten Friedhof auf Figurensuche begibt: weil die Informationen auf einem Grabstein und die Indizien, die ein Grab hergibt, nur begrenzt sind, eröffnen sie Spielräume für eigene Ideen. Doch der Ansatz zündet heute nicht, außer Namensinspirationen finden wir wenig hier draußen.
Immerhin – so kann ich meine kleine Gruppe nach der Rückkehr ins Gebäude Eva zum Speeddating übergeben, um selbst Fragen der bereits Schreibenden zu beantworten und mir ein Bild vom Stand der Dinge zu machen.
Im Plenum nach der Mittagspause, in dem es noch einmal um die Hauptfigur hätte gehen sollen, entzündet sich am Erfinden derselben ein Streitgespräch mit Eva: wieso sich mühsam ausdenken, was man genauso gut draußen in der Realität erkunden kann? Sachbuch vs. Roman, Journalismus vs. Fiktion – natürlich hat, wie mehrere Jugendliche einwerfen, beides seine Berechtigung. Damit sich das in unserer Buch-Reise spiegeln kann, stellen wir’s zur Wahl: wer möchte (weiter) an der eigenen erfundenen Geschichte arbeiten und wer journalistisch zum Thema „meine Welt“ loslegen?
[…]
Während Eva die Journalistengruppe betreut, unterstütze ich individuell die anderen bei ihrer Arbeit an den erfundenen Geschichten: Fantasy- und Science-Fiction-Stories, Familiendramen, vieles, was in der Schule spielt, vor allem aber, viel zu viele Themen, Ideen und Hauptfiguren, um sie an dieser Stelle aufzuzählen.
4. Workshoptag, 13.4.2018
Tag vier der Reise fällt auf Freitag, den 13. Gut, dass hier niemand abergläubisch zu sein scheint. Morgens gibt es nur ein kurzes Plenum für alle, dann ziehen sich die Journalisten in spe in den Computerraum zurück und wir belletristische Autoren haben die Aula für uns, um über Plottwists, Dramaturgie und Spannung zu sprechen, anschließend gehen alle wieder an ihre eigene Geschichte. Und ich erlebe im Lauf des Tages so manche Überraschung, denn heute habe ich endlich Zeit, mir weitere in Arbeit befindliche Geschichten genauer anzusehen.
Manchmal muss ich dabei akzeptieren, dass jemand seine Geschichte gar nicht zeigen möchte [..] Umgekehrt sieht es bei Alisa aus. Tags zuvor hatte sie mich mit der Schilderung ihres spannenden Plots begeistert: Felicitas, eine Schülerin, die für ihre alkoholkranke Familie sorgen muss, und deren Rückzugsort aus ihren nächtlichen Träumen plötzlich Realität wird, als sie nach einem Unfall ins Koma fällt. Dass die Geschichte bis auf das Ende und einige Details, die Alisa im Dialog mit mir klären konnte, bereits fertig geschrieben ist, war mir jedoch nicht klar gewesen – von wegen, nur einer hatte in den Ferien weitergeschrieben!
Das Abschlussplenum beginnt wie ein Speeddating, bei dem die Geschichtenschreiber exakt zwei Minuten aus ihren Stories lesen oder von mir vorlesen lassen, ggf. auch ‚anonym‘. So lernen wir ein Stück weit alle Geschichten kennen, und spontaner Applaus wie Lacher zeigen den Schreibenden, dass sie auf einem guten Weg sind.
Danach haben die Journalisten mit ihrer Freundschafts-Umfrage das Wort: Chiara, Laura und Pia werden ihren Fragebogen den Schauspielerinnen und Schauspielern von Fernsehserien wie „Berlin bei Tag und Nacht“ schicken. Umfragen auf dem Schulhof planen dagegen Alif und Lisa. Eibtesam und Wiki wollen Berühmte und Familien befragen. Und Viktoria wird mit Eylem zusammen die Lehrer ‚in die Mangel‘ nehmen.
Was für Kreise unsere Reise in Sachen „Kultur macht stark“ zieht – und wer alles wen in seine Welt mitnimmt dabei! Eines ist mal sicher: nicht nur die Geschichten, wachsen immer weiter, die Gruppe wächst zugleich immer stärker zusammen.
aus: „Ich nehm dich mit in meine Welt„, Texte schreibender Schüler*innen, hrsg.v. Mischa Bach, Mitteldeutscherverlag, 64 Seiten, ISBN 978-3-96311-076-4