Reisetagebuch, die Erste

Prolog: Kofferpacken & Kennenlernen (20.3.2018)
Wie viele Geschichten beginnt die unsere mit einer Begegnung mit Hindernissen. Bis die Tonanlage halbwegs tat, was sie tun sollte, damit jeder im Publikum mit oder ohne Hörschädigung meiner Lesung folgen konnte, ohne dabei allein auf die beiden Gebärdendolmetscher angewiesen zu sein, brauchte es sowohl Geduld als auch Geschick. Aber dann ging es gleich richtig los …
Auf die Szenen aus meinem Roman „Rattes Gift“ folgte ein Malspiel samt Raumerkundung initiiert von Eva. Das war der perfekte Ausgangspunkt für eine lebhafte Diskussion über die Texte, meine Arbeit als Autorin und unser Projekt: „Müssen wir uns echt Geschichten ausdenken für ein echtes Buch?“, fragte eine Teilnehmerin, sichtlich skeptisch. „Ihr dürft Euch Geschichten ausdenken, und wenn Ihr wollt, kommen sie in ein echtes Buch, aber niemand muss etwas und ich bin da, um Euch zu unterstützen“, versuchte ich, ihr und den andern ihre Bedenken zu nehmen. Und damit jeder für sich seine Ideen notieren kann, gab es am Ende unseres Kennenlernens Notizbücher für alle und die Aufgabe, am nächsten Tag einen Gegenstand als ‚Reisegepäck‘ mitzubringen.

1. Workshoptag, 21.3.2018
Nach dem Kennenlernen mithilfe der mitgebrachten Gegenstände, die vom New Yorker Taxi über diverse Handys und eine Polizeimarke bis hin zu einem ausgestopfte Maulwurf reichen, teilen wir uns in drei Gruppen auf: die erste unternimmt mit dem Stift in der Hand eine Gedankenreise. In der zweiten Gruppe werden die mitgebrachten Gegenstände ausgetauscht und anschließend dem fremden Gegenstand eine Geschichte zuzuschreiben. Und der erste Ausflug der dritten Gruppe führt in den „Raum der fünf Sinne“. […]
Ergänzt wird dieses „Programm“, bei dem jeder nach Lust und Laune alle drei „Ausflüge“ unternehmen oder sich nach dem ersten weiter mit der so gefundenen Idee beschäftigen kann, durch ein Bewegungsspiel mit Eva am Nachmittag.
Im Plenum am Ende des Tages gibt es schon eine Menge zu bestaunen: den „Mäppchen-Tanz“ von Lisa, Viktoria, Eylem und Eva etwa und die Anfänge von vier sehr unterschiedlichen Geschichten. Lucas ungewöhnliche Idee führt in ein New York, in dem die Gebäude lebende Wesen mit der Geschichte der realen Stadt sind. Julian bleibt in seinem Anfang von „Mord in der Klasse“ zwar im Schüleralltag, begibt sich damit jedoch auf den Weg in einen spannenden Krimi. Justins Text ist doppelbödig, nichts ist, was es scheint: ein Raum, der vom Wald durchwuchert wird, darin ein Ich-Erzähler, bei dem man nicht weiß, ist seine Wahrnehmung gestört oder die Welt, die er wahrnimmt?
Und all das war erst der erste unserer zehn Reise- bzw. Workshoptage! Ich bin gespannt, was noch alles kommt.

2. Workshoptag, 22.3.2018
Eine ganze Reihe Jugendliche hat eigene Ideen in Arbeit, und viele von ihnen wollen einfach nur in Ruhe daran weiterschreiben – ein Wunsch, der sich leicht erfüllen lässt. Andere haben zwar eine Idee, wo es hingehen könnte, aber noch keine Vorstellung, wie sie dorthin kommen sollen. Und einige sind ziemlich ratlos, aber offen für neue Ansätze. Während ich mit ersteren nach individuellen Lösungen suche, beflügelt Eva mit einem einfachen Druckverfahren, viel Farbe und noch mehr Fantasie der Kreativität von letzteren.
Und siehe da, am Ende des Tages gibt es im Plenum u.a. weitere Kapitel von Lucas New-York-Story nebst ersten Zeichnungen und spannende Entwicklungen im Leben von Kai, der Hauptfigur aus Julians „Mord in der Klasse“ zu bestaunen. Richtige Bücher hat zudem Eva mitgebracht, die wir gemeinsam im Stuhlkreis erkunden, wobei die Gebärdensprachversionen der Buchtitel immer wieder für Lacher sorgen. Manch einer reserviert sich gleich einen Schwung Sachbücher, um noch mehr Infos für die eigene Geschichte zu haben. Lesefutter für die Zeit bis zum nächsten Workshop-Block, was will man mehr?

aus: „Ich nehm dich mit in meine Welt„, Texte schreibender Schüler*innen, hrsg.v. Mischa Bach, Mitteldeutscherverlag, 64 Seiten, ISBN 978-3-96311-076-4