Kaum ein größerer Prosatext kommt ohne sie aus und doch verschwenden die wenigsten Menschen allzu viele Gedanken auf sie: Nebenfiguren. Während wir als Leser wie als Autoren an der Entwicklung der Hauptfiguren Anteil nehmen, mit ihren Ängsten mitzittern und mit ihren Sehnsüchte mitfiebern, scheinen Nebenfiguren oft auf ihre reine Funktion für Protagonist und Plot reduziert. Die hohe Kunst jedoch besteht darin, auch noch die kleinste Figur so zu zeichnen, dass sie für den kurzen Moment ihres Auftritts lebendig wird. Und die gute Nachricht ist: das kann man lernen!
Etwa, indem man ein bisschen anders, mit ein bisschen mehr Aufmerksamkeit für die Peripherie liest, was man halt grade so liest:
An Detektivwachtmeister Tanner war alles groß: seine Hände, seine Schuhe, sein Körper, seine Nase, sein Mund, sogar seine Frisur. Er begrüßte Fabio mit dem behutsamen Händedruck schüchterner, großer Männer und bot ihm einen Stuhl an seinem kleinen Schreibtisch an.
So steht es in Martin Suters „Ein perfekter Freund“ gleich zu Beginn von Kapitel 7 zu lesen. Und, nicht wahr, man hat sofort ein Bild vor Augen. Wobei die Augen, durch die wir hier blicken, eigentlich die von Fabio sind, der Hauptfigur des 2002 bei Diogenes erschienen Romans ist.
Fabio fragte sich, ob es nicht ein Handicap für einen Detektiv darstellte, aus jeder Menschenansammlung um mindestens einen Kopf herauszuragen. Dazu kam, daß Wachtmeister Tanner an einem nervösen Tick litt. Er zwinkerte mit dem rechten Auge. Zuerst dachte Fabio, es handle sich um das Zwinkern, mit dem furchteinflößende Erscheinungen – Sankt Nikolaus oder Räuber Hotzenplotz – kleinen Kindern die Angst nehmen wollen. Vielleicht war es das auch einmal gewesen. Aber inzwischen hatte sich das Zwinkern verselbständigt. Es zwinkerte wohl auch, wenn er einen Deliquenten einschüchtern sollte. […]
(S. 83, „Ein perfekter Freund“)
Hier zeigt sich gekonnt, dass eine Nebenfigur zugleich eine eigenständige, sogar imposante Erscheinung sein kann, sie jedoch im selben Atemzug die Hauptfigur zu erhellen vermag. Immerhin ist es Fabio, der den Vergleich mit Nikolaus und Hotzenplotz anstellt – das sagt mindestens so viel über ihn wie über Tanner. Und obendrein zeigt es, dass ökonomisches wie spielerisches Erzählen und Beschreiben einander nicht ausschließen.
Man kann, wenn man Autor ist, auch so manches über sich selbst wie über Nebenfiguren lernen, wenn man die eigenen Texte einmal daraufhin in den Blick nimmt. Mir fiel so auf, dass sich meine Nebenfiguren gerne erstmal mit einem Stück Dialog in die Wahrnehmung und ins Leben meiner Protagonisten bringen:
„Das is Ihnen runtergefallen“, sagte eine kratzige Stimme hinter mir, bevor die weiteren Worte im Husten untergingen.
Erschrocken drehte ich mich um und starrte einem Jungen mit Zahnlückengrinsen ins Gesicht. Struppige, braune Haare, schorfige Haut, die Sommersprossen kaum zu unterscheiden, von was auch immer seine Krankheit sein mochte. Die Augen schienen das einzig wahrhaft lebendige an ihm. Sein fragender Blick war geradezu gierig, hungrig, als er mir das Foto entgegenstreckte. […]
(S. 24, „Der Tod ist ein, langer trüber Fluss“, in der Erstausgabe bei Brandes & Apsel 2004/2005)
So begegnet meine Ich-Erzählerin Ophelia Krätze oder vielmehr so fällt Krätze für einen Moment in ihr Leben in meiner Kriminalnovelle „Der Tod ist ein langer, trüber Fluss“ ein. Das geht auch andersherum, wie mein Beispiel aus meinem Roman „Rattes Gift“ zeigt:
„Hallo Lukas. Fürchtet Torben, ich fall ins Klo oder rutsch auf der Seife aus, dass er mir seinen Wachhund nachschikct?“, sagte sie, ohne den durchtrainierten, dunkelhaarigen Mann anzusehen, dessen zusammengewachsene Augenbrauen seinen zumeist misstrauischen bis schlecht gelaunten Gesichtsausdruck betonten. Er stand hemdsärmlig neben dem Waschbecken, die Arme vor der Brust verschränkt, aber die Waffe im Schulterholster war dennoch sichtbar. Was garantiert Absicht war, so viel wusste Charlie nach den paar Tagen mit ihm und seinem Chef. […]
(S. 24, „Rattes Gift“, Leda-Verlag 2008)
Das soll für den Moment an Beispielen reichen. Wer mehr möchte als nur mit geschärftem Blick für Nebenfiguren an die eigene Lektüre zu gehen, wer gar Fragen zu seinen eigenen Nebenfiguren in einem noch im Entstehen befindlichen Roman hat oder unabhängig davon das Thema in einer kleinen Gruppe anderer Autoren moderiert von meiner Wenigkeit diskutieren möchte, dem sei das Spezialtutorium „Nebenfiguren“ empfohlen, das am 24.3.18 in Essen statt findet. Allerdings sollte man sich rasch entscheiden, denn die Anmeldefrist endet jetzt am Wochenende. Deshalb gibt’s hier gleich das passende Anmeldeformular.
Wer dazu Fragen im Vorfeld hat oder zu weit weg von Essen wohnt, aber gern so ein Seminar bei sich in der Gegend hätte, kontaktiert mich am besten per Mail (mischa_bach [@] gmx.de). Ich bin gespannt – und kann Ihnen vorab schon eines versichern: in meinen Seminaren sind die Teilnehmer garantiert keine Nebenfiguren!