Perspektivfragen

„Ich oder er?“ – das scheint für viele Autoren eine Bauchentscheidung oder  Geschmacksfrage. „Auktorial, personal oder multiperspektivisch“ – Hand aufs Herz, wann haben Sie das letzte Mal beim Schreiben darüber bewusst nachgedacht? Dabei geht es in Sachen Erzählperspektive um viel mehr als eine grundlegende Entscheidung, einmal gefällt zu Beginn des Schreibprozesses: Die Perspektive bestimmt in jeder Szene, jedem erzählten Moment das komplexe Verhältnis zwischen Leser und Text aufs Neue.

 

Zwischen diesen beiden Polen – also der Entscheidung für eine grundsätzliche Erzählperspektive oder Perspektivstruktur auf der einen Seite und der Wahl des Blickwinkels jeder einzelnen Szene, praktisch jedes Satzes im Text auf der anderen Seite – entsteht letztlich erst die Geschichte, indem wir sie so und nicht anders erzählen. Im Umkehrschluss gilt: dieselbe Handlung erzählt aus einer anderen Perspektive ergibt eine andere Geschichte. Moby Dick erzählt von Kapitän Ahab selbst würde mit dem Untergang des Schiffes enden und müsste „nur“ auf die anschließende Rettung Ishmaels verzichten. Aber ob wir als Leser bereit wären, uns von A bis Z, über hunderte von Seiten auf einen verbohrten, verbitterten Fanatiker wie Ahab einzulassen, scheint zweifelhaft.

Womöglich ist das ein Grund, warum das multiperspektivische Erzählen nicht zuletzt in der Unterhaltungsliteratur gern gewählt wird? Beim multiperspektivischen Erzählen gehört das Veränderliche zum Konzept, wechseln sich doch Passagen aus Sicht verschiedener Charaktere miteinander ab. Der Leser begleitet mal diesen, mal jenen durch die Handlung und erhält mehr oder minder tiefe Einblicke in Gedanken und Gefühle der einzelnen Charaktere.

Allerdings muss man als Autor darauf achten, den Leser in jeder Szene klar zu orientieren, wem er gerade durch die Handlung folgt und wessen Gedankengänge er dabei womöglich mitbekommt. Dafür muss man nicht nur seine Figuren gut kennen, sondern man sollte auch in der Lage sein, sie unterschiedlich erzählen zu lassen. Und, ja, das gilt auch dann, wenn man beim multiperspektivischen Erzählen in der dritten Person schreibt. Zu den herausragenenden Beispielen für ausgefeilte Multiperspektiven gehören der U-Bahn-Thiller The Taking of Pelham One Two Three wie auf der literarischen Seite etwa The Waves oder auch To The Lighthouse von Virginia Woolf.

Viele Perspektiven, viel Planung, mag nun mancher denken. Aber auch bei Ich-Erzählern, die zumeist als Solisten in Sachen Perspektive auftreten, ist die Perspektive keine einmalige Wahl mit starren Folgen. Gewiss, wer sich für einen Ich-Erzähler entscheidet, hat damit nurmehr auf dessen Gedanken und Gefühle unmittelbaren Zugriff. Das Innenleben aller anderen Charaktere bleibt nur von außen zugänglich – oder als Spekulation des erzählenden Ichs, die sich als richtig oder falsch erweisen kann, und so u.a. zum Quell falscher Fährten aber auch von Komik, von Ironie werden kann. Das wiederum kann zur Basis eines höchst dynamischen Verhältnisses zwischen Leser und Ich-Erzähler werden, wird ersterer doch nun versuchen zu enträtseln, wo etwaige Selbstüberschätzung oder auch Eigeninteressen des Erzählers dessen Sicht auf das Erzählte färben, etc.

Geradezu unendlich vervielfältigt und verfeinert sich dieses Verhältnis zwischen Erzälhler und Text einerseits und Leser und Geschichte andererseits, wenn man sich die Erzählperspektive als den Blickwinkel einer jeden Szene anschaut. Denn ganz gleich, ob der Text mono- oder multiperspektivisch gestaltet ist, er in der ersten oder dritten Person geschrieben ist, gar ein auktorialer (allwissender) Erzähler jenseits der erzählten Welt den Leser mit seinen Kommentaren direkt anspricht – die Frage, wie nah wir in einer jeden Szene an das Geschehen und wie es durch die handelnden Personen herangehen, ist davon mehr oder weniger unabhängig. Und das beginnt bei der Wahl des jeweiligen Erzählzeitpunktes …

Als ich damals darüber nachdachte, einen Hund anzuschaffen, ging es mir nur darum, mich selbst aus dem Haus zu locken und mir selbst zu mehr Bewegung zu verhelfen. Wie wenig ahnte ich davon, wie sehr Rufus mein Leben auf den Kopf stellen würde. All die zerbissenen Schuhe, die vom Schwanzwedeln zerlegten Bodenvasen, ruinierten Teppiche …! Und hätte ich davon gewusst, hätte ich Rufus im Tierheim gelassen und nie erfahren, wie viel Liebe so ein Tier gibt.

So könnte ein Ich-Erzähler in einem Roman rückblickend seine Entdeckung der tätigen Tierliebe beschreiben. Er könnte aber auch viel näher ran ans Geschehen und tiefer hinein ins eigene Erleben einsteigen:

„Rufus, aus!“ Noch bevor das, was ein Wildlederschuh gewesen war, auf dem Boden aufschlug, flog das Tier auf mich zu und die Vase, eine uraltes Lieblingsstück meiner verstorbenen Lieblingstante, war Geschichte.

„Du —„, wollte ich lospoltern, da erreichten mich seine viel zu großen Welpenpfoten. Er sprang an mir hoch, fünfeinhalb Kilo Fell, Muskeln, Knochen und vor allem Lebensfreude, er jaulte, fiepte, japste, der Speichel flog aus seinen Lefzen und landete auf meinem Kirschholzparkett samt Seidenteppichen und meiner weißen Hose, aber es war mir egal. Ich hockte mich hin, ließ mich vollsabbern, schlang die Arme um dieses Bündel Liebe und heulte vor Glück.

Hund, Zerstörung, Liebe, die Themen tauchen in beiden Beispielpassagen auf, was sie jedoch unterscheidet, ist der Blickwinkel und der Erzählzeitpunkt in Relation zum Erzählten. Gerade Anfänger machen sich beim Schreiben darüber keine Gedanken und bleiben häufig  weiter auf Abstand zu ihren Geschichten und Szenen, als diesen gut tut – da ist der Leser nicht mittendrin, wenn die Fetzen fliegen, sondern erfährt vom Streit erst, wenn die Erzählerin sich zurückerinnert, wie sie damals drei Wochen später ihrer besten Freundin davon erzählte o.ä.

Natürlich ist es nicht generell die beste Wahl, so nah wie möglich ranzugehen ans Geschehen, aber es ist immer eine gut Idee, sich bewusst für eine ganz bestimmte Variante zu entscheiden. Und zwar nicht nur beim Ich-Erzähler, bei dem die beiden Seiten oder Aspekte sogar eigene Bezeichnungen haben – das erlebende Ich ist das Ich als Protagonist, das Ich mitten in der Handlung, sozusagen, während das erzählende Ich diese aus einer zeitlichen Distanz heraus betrachtet und sich dabei ggf. sogar kommentierend oder vorausdeutend an den Leser wenden mag (siehe im ersten Beispiel das „Wie wenig ahnte ich davon, … Und hätte ich davon gewusst, …“). Sondern jedes Mal, wenn wir eine Szene schreiben, sollten wir uns klarmachen, aus welchem Blickwinkel und mit welcher zeitlichen Distanz (oder Nähe) wir dies tun wollen.

Soweit mein kurzes Streiflicht zum komplexen und spannenden Thema der Erzählperspektive. Wer mehr dazu erfahren will, findet in jeder Unibibliothek reichlich Lesematerial. Und wer die eigenen Perspektiven gerne mal von außen betrachtet  und/oder seine individuellen Fragen beantwortet haben möchte, der ist mir im Lektorat wie im Coaching willkommen – oder kommt einfach ins Autorentutorium. 🙂

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